Volvo USA: Mit dem VNL eine Nasenlänge voraus

VOLVO TRUCKS USA Im Herbst 2017 liess der Hersteller sein neues Flaggschiff für den Langstreckenverkehr vom Stapel. Der schwere Volvo VNL setzt auf aerodynamisch-optimiertes Hauberdesign mit schwedisch-amerikanischen Innereien. Wie fährt sich dieser aus europäischer Sicht exo­tische Lastwagentraum?

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On the road again … Die Fahrt mit dem neuen Lang­hauber VNL ist eine beein­druckende Angelegenheit, ­wenngleich man vom Fahrersitz aus die stark nach vorne abfallende Haube gar nicht wahrnimmt, respektive einsieht.

Wenn es um Premieren geht, arbeiten amerikanische Fahrzeughersteller gerne mit inflationären Zeitplänen. Kaum ist das diesjährige Fahrzeug erschienen, steht das kommende Modelljahr schon in den Marketing-Startlöchern. Volvo Trucks USA hält es da eher mit der besonnenen Ruhe seines schwedischen Mutterkonzerns. Satte 20 Jahre – in den USA eine gefühlte Ewigkeit – standen die schweren Hauber mit dem charakteristischen Querbalken im Grill im nordamerikanischen Produktprogramm im Angebot, bis jetzt die Nachfolger antreten.

Es wird nachgelegt
«20 Jahre haben wir der Konkurrenz Paroli geboten!», erklärt stolz Göran Nyberg, USA-Präsident von Volvo Trucks. «Jetzt war es aber an der Zeit nachzusetzen und das innovativste Fahrzeug auf dem Markt zu lancieren!» Grosse Worte für ein grosses Fahrzeug, das im neu errichteten Volvo-Kundencenter im Werk New River Valley/Virginia nach Monaten strengster Geheimhaltung seine Weltpremiere feierte.

Der neue Volvo VNL erscheint aus dem Shownebel der Präsentation wie ein Truck-Messias für die Branche. «Endlich können wir ihn zeigen», freut sich der Volvo-US-Chef mit euphorischer Erleichterung, als sich die Schwaden um den Hoffnungsträger der schwedisch-amerikanischen Allianz lichten. Ein typischer Volvo auf den ersten Blick: mit mächtiger Haube, üppigem Grossraumfahrerhaus hinter der Kabine und dem in den USA obligatorischen Dreiachs-Chassis. Jedes Detail ist aber völlig neu entwickelt. Die von der Stossstange bis in die Kotflügel hineingezogenen LED-Scheinwerfer – mit integrierter Heizung gegen Frost – harmonieren mit dem aerodynamisch ausgefeilten Design von Haube und Kabine, das Anleihen an der muskulär-sehnigen Oberfläche organischer Strukturen nimmt. Der wuchtige Kühlergrill erinnert mit seiner Wabenstruktur an architektonische Vorbilder von Mensch und Tier.

Volvo-Designdirektor Rikard Orell ist zusammen mit seinen US-Kollegen ein Design geglückt, das topmodern, aber nicht modisch wieder für etliche Jahre Bauzeit gut sein wird. «Die Optimierung der Aerodynamik war für uns bei der Gestaltung der Kabine ein wesentliches Kriterium», berichtet Orell nicht ohne Zufriedenheit. Das sich nach oben hin verjüngende Fahrerhaus geht in langgezogenen Linien organisch in die verschiedenen Schlafkabinenformate über. Keine leichte Aufgabe, denn vom VNL gibt es eine Kurzversion mit Flachdach mit gerade mal 76 Zentimeter Kabinenlänge bis zum Topmodel VNL 860 mit Hochdach und einem 2,20 Meter langen Wohnappartement mit 2,60 Meter Innenraumhöhe, das sich an das Fahrerhaus anschmiegt.

Gediegene Wohnkabine
Die grossen Wohnkabinen hinter dem Fahrerplatz bieten denn auch alles, was gut und edel ist für den Langstreckenverkehr von Küste zu Küste: Mikrowelle, Kühlschrank, Waschbecken und TV gehören zum Standard. Frei belegbare Kleiderschränke, Staufächer im XXL-Format über Schreib-/Esstische bis hin zur Duschkabine an Bord befriedigen die hohen Anforderungen der US-Fahrer an den Wohnkomfort im Fahrzeug. Schliesslich fahren viele wochenlang im LKW durch das weite Land, manche wohnen sogar dauerhaft im Heck ihres Langstrecken-Trucks. Fallweise, so berichten die Innenraumdesigner, sei auch nach Staufächern für die mitgeführte Schrotflinte nachgefragt worden … So üppig die Wohnappartements im Heck ausfallen, so verwunderlicher ist es für den europäischen Fahrer, wie vergleichsweise wenig Platz am Fahrerplatz verschwendet wird. Nach dem Aufstieg über die aussen schräg angeordneten Treppenstufen findet der Volvo-Fahrer einen nicht unkomfortablen, aber doch eher knapp geschnittenen Arbeitsplatz vor.

Neues Design bei den klassischen Instrumenten im Analogstil, ein neues, individuell belegbares 5-Zoll-Infodisplay und die Volvo-typischen grossen Schalter sorgen für Klarheit im neu gezeichneten, zum Fahrer hin eingezogenen Cockpit. Bis auf die Auflieger-Streckbremse und den US-typischen quadratischen Druck-/Zugschalter für die Feststellbremse entspricht das Cockpit europäischen Vorstellungen. Sogar die dreifach einstellbare Lenkradsäule gleicht den neuesten Typen aus der alten Welt. Die zahlreichen Cupholder und der hier noch gebräuchliche CB-Funk verraten aber den US-Einsatz. «Position perfekt» betitelt Volvo selbstbewusst den Fahrerarbeitsplatz, für den es sieben verschiedene Sitze – allesamt den ausladenden Formen der hiesigen Fahrerhinterteile angepasst – zu ordern gibt.

Besonders stolz ist man auf den mehrteiligen Fahrerhausboden, der zur Reinigung oder Veredelung mit Parkett leicht aus der guten Stube herausgenommen werden kann. Die stark nach unten abfallende GFK-Haube ermöglicht guten Ausblick durch die einteilige Windschutzscheibe. Nur die auf den Kotflügel aufgepflanzten Zusatzspiegel ragen ins Sichtfeld des VNL-Piloten.

Impressionen
So kann die Premierenfahrt mit dem Volvo-­Flaggschiff losgehen. Unter der leichten Kunststoff-Motorhaube grummelt der 13 Liter grosse D13-Sechszylinder, der über die Turbocompound-Turbine zusätzliche 50 PS aus dem Abgasstrom mobilisiert. Mit 455 PS ist der 38-Tonner gut motorisiert, so legt das I-Shift-Getriebe den Anfahrgang 3 ein und die Fuhre zieht los. Ganz so ruckfrei wie in den Euro-Trucks schaltet das I-Shift im US-Hauber allerdings nicht. Das passt zum Fahrstil des Hauben-Dreiachsers, der insgesamt deutlich ruppiger zur Sache geht als ein vergleichbarer FH. Der Motor ist trotz seiner entfernteren Position vor der Kabine immer deutlich hörbar, die Federung arbeitet effektiv, aber eben nicht so komfortabel, wie es der Europäer von seinem Truck gewohnt ist.

Was tatsächlich Eingewöhnung erfordert, ist die Sitzposition fast in der Mitte des Drehpunkts des Dreiachsers. Trotz «unsichtbarer» Haube tut man gut daran, einen anderen, weiter ausholenden Kurs anzuschlagen, damit die ellenlange Zugmaschine und der Zweiachs-Kofferauflieger im Schlepp auf dem selben Strich durch die Kurve ziehen. Denn der nach alter Väter Sitte zwillingsbereifte Auflieger hat die tückische Eigenschaft, äusserst scharf ins Kurveninnere zu ziehen. Das Arbeitsprogramm am Steuer des VNL wird durch die vollständig rückstellkräftefreie Lenkung ergänzt, die den einmal eingeschlagenen Kurs stur beibehält. Auch wenn es am Mythos US-Traumtruck kratzt: Euro-Frontlenker sind komfortabler, einfacher zu bedienen und dynamischer im Antritt. Sorry, US-Guys!

Marktvergleich
Verglichen mit dem US-amerikanischen Konkurrenten liegt der Volvo aber durchaus auf dem Niveau des Marktführers Freightliner, der mit dem New Cascadia im letzten Sommer kräftig vorgelegt hatte. Und da liegt auch die Latte, an der Volvo-Trucks-Chef Claas Nilsson sich messen lassen will. «Wir wollen beim jetzigen Marktanteil von zehn Prozent deutlich wachsen», sagt der oberste Volvo-Trucker, der dem Stapellauf in Virginia beiwohnte. Fahrbarkeit ist in der US-Szene das eine Thema, die Wirtschaftlichkeit vor allem in den grossen Flotten mit mehreren Tausend Fahrzeugen aber elementar. 7,5 Prozent weniger Verbrauch haben die Väter des neuen Haubers ihrem Newcomer mit in die Produktionswiege gelegt.

Rund ein Prozent geht auf das Konto der neuen Aerodynamik, die mit dem neuen Karosseriekleid, engeren Spaltmassen an der Haube und im Grill sowie seitlichen flexiblen Schürzen mit Ground-Effekt unter dem Fahrzeug dem Fahrtwind Paroli bieten will. Warum das Aeropaket aber bei der völlig unverkleideten Hinterachse endet und die Bodenfreiheit unter der Frontstossstange stattlich ausfällt, während der europäische Bruder FH mit seiner Kühlernase direkt auf der Strasse schnüffelt, mag man heute noch nicht beantworten. Die rustikalen Strassenverhältnisse mit dem einen oder anderen kindskopfgrossen Schlagloch mögen eine Erklärung dafür sein.

Satte 6,5 Prozent Spriteinsparung kann man dagegen aus dem Stand mit dem neuen Turbocompound-Triebwerk realisieren, das zusammen mit den lang übersetzten Hinterachsen (2,47) direkt auf das Wirtschaftlichkeitskonto einzahlt. Als Spitzenwert führt man Verbrauchswerte von unter 20 l/100 km an. Damit sticht bei der Wahl der Motormarke ein Volvo-eigener Trumpf mehr. Denn über dem D13 mit 500 PS Spitzenleistung steht nach wie vor der «Big Block»-Cummins X15 mit PS-Angeboten von 400 bis 585 PS im Bestellheft.

«Der Anteil an Volvo-eigenen Motoren und Getrieben ist aber stetig am Steigen», verrät Marketingmann John Moore, «und liegt heute schon bei deutlich über 90 Prozent. Man muss heute nicht mehr zwischen guter Leistung oder gutem Verbrauch wählen», freut sich der Volvo-Manager. Mit «Update»-Datentelemetrie, dem Angebot modernster Sicherheits- und Assistenzsysteme im innovativsten Truck der Branche sowie dem Rückhalt eines 400 Stützpunkte starken Händlernetzes sei Volvo Trucks USA optimal gerüstet, dem langsam wieder erwachenden LKW-Markt Grosses zu bieten. Wie viel der geneigte Volvo-Kunde für den Technologiesprung in die Zukunft mehr bezahlen müsse, wollte der US-Chef Göran Nyberg jedoch nicht verraten. «Wir sind sehr wettbewerbsfähig», versicherte der Exilschwede für den wichtigsten Absatzmarkt von Volvo Trucks – und das bezieht sich beim VNL tatsächlich nicht nur auf den Preis.

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