«Calais» ist wieder da
Ein Jahr nach der Auflösung des Flüchtlingscamps in Calais ist jetzt ein neues, noch brutaleres Camp entstanden. Einzelne Chauffeure weigern sich, via Calais nach England zu fahren, ein Transportunternehmen verzichtet ganz auf Ziele in Grossbritannien.

Bis zur Räumung des Flüchtlingslagers im Oktober 2016 lebten nahe Calais über 7000 Migranten unter erbärmlichen Umständen. In der Folge verlagerte sich der Migrationsstrom in Richtung Norden, vor allem in die niederländischen Fährhäfen von Hoek van Holland, Rotterdam-Europoort und IJmuiden. Doch die Niederländer begegneten dem Menschenstrom mit mehr Grenzpolizei, mehr Spürhunden und mehr Technik. Deshalb schafften es die verzweifelten Menschen nur selten, an Bord einer der zahlreichen Nordseefähren zu gelangen. Mittlerweile trifft man an den holländischen Häfen kaum mehr Flüchtlinge an.
Grosses Einzugsgebiet
Dagegen wurde Calais wieder zum Ausgangspunkt für jene, die unter und auf Last- und Sattelzügen nach Grossbritannien gelangen möchten. Doch bereits Hunderte Kilometer vor Calais, auf Park- und Rastplätzen in Belgien und Frankreich, wird versucht, an Bord von Trucks zu gelangen. Dabei wissen die gut vernetzten «Reisenden» genau, welche LKW via Calais nach England fahren.
Viele Unternehmen weisen ihre Chauffeure deshalb an, in einem 200-km-Umkreis um Calais weder zu tanken und schon gar nicht zu rasten. Dass dies nicht immer möglich ist und auch die Ruhezeiten eingehalten werden müssen, liegt auf der Hand. Allerdings ist diese Situation für die Chauffeure mit erheblichen Gefahren verbunden, denn mittlerweile wird auch vor Gewalt nicht zurückgeschreckt. Anfang August 2017 wurden auf einem Autobahnparkplatz bei Gentbrugge (Belgien) drei Chauffeure von Flüchtlingen zusammengeschlagen und verschiedene Fahrzeuge erheblich beschädigt. Chauffeure, die ertappte Migranten von den Ladepritschen und unter den Fahrzeugen wegjagen möchten, werden ab und an mit Holzlatten, Eisenstangen, Messern und Steinen bedroht und verletzt. Der Gouverneur von Ost-Flandern überlegt, solche Parkplätze dauerbewachen zu lassen.
Auch Reisebusse aus England bleiben nicht verschont; und das tief im Landesinnern Frankreichs. In Paris wurden Flüchtlinge in drei englischen Cars ertappt, die unweit des Eiffelturms abgestellt waren. Die aufmerksamen Chauffeure hatten sie aber entdeckt und der Polizei übergeben.
England ist abgesagt
Die Firma Reining Transport gehört mit 300 Fahrzeugen, 550 Mitarbeitenden sowie Niederlassungen in Deutschland und Ungarn zu den grösseren Unternehmen in Holland. Gemäss einem Pressebericht erwirtschaftete der Logistiker etwa zehn Prozent des Umsatzes mit Transporten von und nach Grossbritannien. Trotzdem ist nun Schluss damit, denn das Unternehmen möchte seine Fahrer nicht weiter den Gefahren rund um Calais aussetzen. Zudem wurden die Fahrzeuge mit «NO UK»-Klebern (kein Grossbritannien) versehen. Als Alternativen böten sich die weniger gefährlicheren und gut überwachten niederländischen Fährhäfen an, die jedoch preislich nicht mit Fähre und Bahn via Calais mithalten können.
Nicht unerheblich sind auch die Bussen für trotz allem nach Grossbritannien gelangende Flüchtlinge. Pro blinden Passagier muss der Chauffeur 900 Euro bezahlen, sein Transportunternehmen legt den gleichen Betrag noch einmal drauf. Und wenn sich die Flüchtlinge auf einen Lebensmitteltransporter geschmuggelt haben, wird die Fracht als verdorben erklärt, da die Menschen auch ihre Notdurft zwischen der Ware verrichten. Die Folge davon sind u. a. höhere Versicherungsprämien.
Calais ist und bleibt also ein Hotspot für illegale Migranten und wird für Chauffeure eine immer grössere Zumutung. Gleichzeitig werden die Trucker als Schlepper verdächtigt und kriminalisiert. Allerdings sind Fälle von Fahrern, die sich als Schleuser betätigen, sehr selten. Transporteure wiederum erleiden materielle Schäden. Es sind wirklich Lösungen gefragt, die von der Politik beigesteuert werden müssen, auch von Frankreichs neuem Präsidenten, sonst besteht die Gefahr, dass «Calais» nicht nur ist, sondern bleibt.
Dossier zum Thema von ZEIT ONLINE.
