Erinnerungen von Hans J. Betz: Die Kluft war gross

50 JAHRE TIR Bis Ende unseres Jubiläumsjahrs geben wir dem Gründer Hans J. Betz Raum, um uns mit seinen Erinnerungen auf eine Zeitreise zu nehmen. Dies ist das dritte von insgesamt zehn geplanten Zeitdokumenten zu Leben und Transportsektor von früher.

Hans J. Betz 50 Jahre Bonzenkinder TIR transNews
Das erste Auto von Hans J. Betz war dieses Tretauto, welches sein Vater, der Garagist, selbst konstruiert hatte.

Vor einigen Jahren erreichte mich eine Einladung zu einem Klassentreffen. Ein gewisser «Bölleli», den ich als Jean-Paul in Erinnerung hatte, organisierte nach über 50 Jahren nach Ende der Schulzeit einen entsprechenden Anlass. Ich beschloss, dem Treffen der «alten Männer» fernzubleiben, da mein Basel, so wie ich es kannte, schon längst nicht mehr ist, was ich bei meinem letzten Besuch vor über zehn Jahren unschwer feststellen konnte. Damals hatte ich den Eindruck, dass dort, wo ich eine unbeschwerte Kindheit verbracht hatte, im tiefsten Kleinbasel, längst nicht mehr das ursprüngliche Baseldeutsch gesprochen wurde und dass die Spielplätze der 50er-Jahre bei meinem letzten Besuch wie von Drögelern besetzt erschienen. Auch den jüdischen Wäscheladen gibt es längst nicht mehr, und wo einst ein Schuhmacher seine Werkstatt hatte, ist heute eine Teestube. Schliesslich hatte ich auch den Eindruck gewonnen, Basel sei zur autofeindlichsten Stadt der Schweiz geworden.

Schöne Zeiten für Hans J. Betz in Kleinbasel

Ein Blick zurück. Wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs war das am rechten Rheinufer liegende Kleinbasel – auch das mindere Basel genannt – ein grosses Dorf. Die Leute kannten sich, begegneten sich mit Respekt, halfen sich gegenseitig. Der kleine Gewerbetreibende, der Chemiearbeiter, der Kohlenhändler, der Bäcker oder der Milchmann, alle hatten gleich viel oder gleich wenig, man sehnte den nächsten Zahltag herbei oder hoffte, dass die Kunden die Rechnungen bezahlten.

Die erste Reparaturwerkstätte meines Vaters befand sich in jenem Viertel, das man zuletzt als Bermudadreieck bezeichnete. Kunden waren reiche Engländer, die in den um­liegenden Hotels wohnten, der Metzger mit dem Morris-­Kastenwagen, der Altstoffhändler mit dem Opel Blitz aus Vorkriegszeiten, aber auch einige Herren mit Ami-Schlitten, die von «tief ausgeschnittenen Damen» begleitet wurden. Manchmal hatten diese Herren Zahlungsschwierigkeiten. Nach einigen schlechten Erfahrungen blieb der Studebaker oder Chevrolet einfach auf der Hebebühne stehen, bis die Reparatur bezahlt war oder eine teure Uhr oder eine Goldkette verpfändet wurde. Mein Vater war auch musikalisch sehr begabt, verdiente als Posaunist und Bandleader eines damals sehr bekannten Unterhaltungsorchesters an den Wochenenden meist mehr als mit Reparaturen.

Mein ganzer Stolz als kleiner Knirps war ein Tretauto, das mein Vater konstruiert hatte. Auch die Primarschulzeit habe ich in guter Erinnerung. Wo sich heute das unansehnliche Muba-Parkhaus befindet, befanden sich früher das Rosental-Schulhaus und die Rosental-Anlage. Zirkus Knie, Zirkus Pilatus, Mustermesse und Herbstmesse, es war immer etwas los. Klassenweise gingen wir für 50 Rappen in die Nachmittagsvorstellungen von Knie oder Pilatus und erhielten auch von den Schaustellern bei der Herbstmesse einige Freifahrten.

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Auf dem Gelände des Güterbahnhofs St. Johann trat der Autor als Knirps mit den wartenden Transporteuren in Kontakt. Mit einem Mack von Streng Apeldoorn durfte er sogar einmal mitfahren.

Die Welt von Hans J. Betz am linken Rheinufer

Eine glückliche Zeit, eine Zeit, die sich schlagartig änderte, als mein Vater in Grossbasel, also auf der linken Rheinseite, im «roten» St. Johann-Quartier eine grössere Garage übernahm. Ich kam in eine andere Welt, in eine Welt mit vermeintlich so­zialen Unterschieden. Die Kluft zwischen der Arbeiterschaft und den Selbstständigen war damals gross. Auch wurde ich erstmals mit dem Ausdruck «Bonzebueb» konfrontiert. Hier wählten die Stimmbürger – das Frauenstimmrecht liess noch lange auf sich warten – vor allem SP oder die Partei der Arbeit. Letztere löste die 1940 verbotene Kommunistische Partei ab. Am 1. Mai zogen Schalmaienkapellen (Schalmei = Holzblasinstrument) und Aktivisten mit roten Fahnen lautstark durch das Quartier.

Ja, willkommen in der damaligen Wirklichkeit! Während viele meiner Mitschüler in grauen Mietshäusern wohnten, die kurz nach der Jahrhundertwende erstellt worden waren, über kein Bad verfügten, Gemeinschaftstoiletten auf der Zwischenetage hatten und am Samstag die öffentlichen Badeanstalten nutzen mussten, konnte ich mit meinen Eltern in einen Neubau mit zeitgemässem Komfort einziehen. Trotzdem. Die Kokerei des nahen Gaswerks stank zum Himmel, zwischen dem Güterbahnhof St. Johann und dem nahen gleichnamigen Rheinhafen verkehrten noch rauchende Dampfloks mit langen Güterzügen auf Gleisen über die öffentlichen Strassen, und der Gestank vom Schlachthof erreichte je nach Wind auch das Schulhaus. Auch meine Aussicht war eher bescheiden, denn in 100 Metern Entfernung fuhren Tag und Nacht die aus Frankreich kommenden Personen- und Güterzüge vorbei.

In der Garage mit Tankstelle gab es genügend Möglichkeiten für oft sehr willkommene «Kinderarbeit».

Zweiklassengesellschaft

Bald merkte ich, dass auch meine neue Schule eine Zweiklassengesellschaft war. Da waren einerseits die Schüler, deren Eltern ein Geschäft hatten, andererseits die Kinder der Arbeiter aus dem Hafen, der Chemie, den Fabriken und bei der Bahn. Manche Kinder aus Arbeiterkreisen durften, wohl aus sozialem Neid, nur heimlich mit den sogenannten Bonzenkindern spielen. Doch Neid war nicht angebracht, denn während die Arbeiter alle 14 Tage ein gefülltes Zahltags­täschchen in Empfang nehmen konnten – ein Bank- oder Postcheckkonto hatten damals nur Geschäftsleute – waren die kleinen Selbstständigen darauf angewiesen, dass von den Kunden die Rechnungen oder Monatsraten bezahlt wurden. Etwa der Möbelhändler, der gebrauchte Möbel auf Kredit herausgab, der Milchmann, bei dem man anschreiben konnte (Milchbüechli), oder der Schuhhändler, der auf die Bezahlung seiner Schuhe hoffte.

Aber auch dem Garagisten blieb der eine oder andere die Benzinrechnung schuldig. Viele Kunden meines Vaters waren Grenzgänger aus dem Elsass. Sie kamen mit dem Vélosolex zur Arbeit und tankten täglich für 50 Rappen Zweitaktgemisch. Andere wiederum besassen bereits einen Renault Heck, der auch täglich mit zwei oder drei Litern Benzin aufgetankt wurde, da in Frankreich Benzin viermal teurer war. Viel Arbeit für wenig Geld! Ich und andere Kinder von kleinen Selbstständigen bekamen die Sorgen der Eltern tagtäglich mit, mussten mehrheitlich nach der Schule mitarbeiten, während viele Mitschüler ihre Freizeit selbst gestalten konnten. Wenn ich heute als ehemaliger «Bonzebueb» das Rad um 60 Jahre zurückdrehe, denke ich, dass die Arbeiterschicht nur wenig über das Leben und die Sorgen der Kleinunternehmer wusste. Sonst wäre es kaum möglich gewesen, dass Mitschüler aus demselben Klassenzimmer nach Schulschluss nicht miteinander verkehren durften. Ich sass zwar in derselben Bank wie der Sohn eines Hafenarbeiters, dessen Vater ihm jedoch den Umgang mit mir verbot. Das war das Resultat der sozialen Unterschiede, die es jedoch so überhaupt nicht gab.

Noch kein miteinander

Zahlreiche Väter meiner Mitschüler arbeiteten im nahen Güterbahnhof St. Johann. Für lange Zeit war dieser für mich ein prima Abenteuerspielplatz und ich kam auch mit den Chauffeuren von verschiedenen niederländischen Transportfirmen in Kontakt, die bei den Lagerhäusern im St. Johann-Quartier auf Rückladungen warteten. Einmal durfte ich sogar auf einem Mack von Streng mitfahren, ein Erlebnis, an das ich mich auch nach über 60 Jahren noch gerne erinnere. Damit war es jedoch vorbei, als mein Vater einen ersten LKW kaufte und im Hollandverkehr einsetzte. Ich wurde mit der Begründung vom Bahnhofareal gejagt, dass mein Vater mit seinem Lastwagen die Bahn kaputtmachen würde. Mehr noch, mein damals bester Freund, dessen Vater bei den SBB Lagerarbeiter war, durfte plötzlich nicht mehr mit mir spielen. Wenn er trotzdem zusammen mit dem «Bonzebueb» erwischt wurde, erhielt er auch noch eine Tracht Prügel. Diese Zeiten sind glücklicherweise längst vorbei und ich freue mich immer wieder, dass ich das Miteinander der Verkehrsträger Schiene und Strasse noch erleben darf.

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