Der DAF XG+ gründet eine neue Liga für Fernfahrer-Komfort
FAHRBERICHT Ende August 2023 hatten wir die Gelegenheit, dem neuen DAF-Topmodell XG+ mit 483 PS auf unserer Testrunde auf den Zahn zu fühlen. Hält die neue Generation auch, was man bei ihrem Verkaufserfolg erwartet?
Unter dem Titel «DAF nutzt erstmals die neuen EU-Vorgaben» hatten wir 2021 die neue Lastwagengeneration vorgestellt. Die neuen EU-Vorgaben betreffen u.a. vorwiegend die Abmessungen, dank derer die Hersteller flexibler in der Fahrzeugdimensionierung sein können, um bei Ökologie, Sicherheit und beim Fahrerkomfort bessere Lösungen zu finden. Das zeigt sich augenfällig an der um 160 Millimeter weiter nach vorne ragenden Front. Auch heute, zwei Jahre nach der Lancierung, ist DAF der einzige Hersteller, bei dem die neuen EU-Vorschriften konsequent eingesetzt werden. Zusammen mit den Optimierungen im Antriebsstrang und in der unterstützenden Elektronik sollen dadurch bis zu zehn Prozent Einsparungen gegenüber dem Vorgängermodell erzielt worden sein.
Modern, pragmatisch
Im Test mit dem Flaggschiff XG+ als 480 FT 4×2 fällt auf, dass DAF trotz der weitsichtigen Konzeption seiner neuen Generation in vielen Bereichen sehr pragmatisch ans Werk gegangen ist. Drei Beispiele sind das Festhalten am Zündschlüssel und an der hydraulischen Lenkung sowie der Verzicht auf einen motorisierten Kippmechanismus für die Kabinen.
Den Zündschlüssel begründete DAF anlässlich der Vorstellung damit, dass dieser bewährt und kostengünstig sei, alle anderen Lösungen hingegen teurer und in der Hand- habung nicht wirklich besser: «Uns geht es bei jeder Neuerung um added value (Mehrwert), nicht um added cost (Mehrkosten).» Ein Argument, dem wir nicht wirklich viel entgegensetzen können.
Das manuelle Kippen der Kabine wird damit begründet, dass Chauffeure «on the road» kaum mehr an den Motor heranmüssen, sondern praktisch nur noch die Servicemechaniker in den Werkstätten. Und in den Werkstätten entfällt meist das händische Pumpen, wenn eine externe Pumpe an den Kippmechanismus angeschlossen wird. Für den seltenen Fall, dass unterwegs trotzdem die Kabine gekippt wird, ist die Pumpstange bewusst zweigeteilt und voneinander getrennt in den beiden Eckabdeckungsklappen untergebracht. Damit stellt DAF sicher, dass vor dem Kippen nicht vergessen geht, die Eckklappen wie auch die Servicefrontabdeckung zu öffnen.
Die sonst üblichen Trittstufen in der Front, welche zum Reinigen der Windschutzscheibe von Insekten oder von Schnee gedacht sind, sucht man bei DAF vergeblich. Vielmehr führt heute jeder Truck der neuen Generation ein spezielles Reinigungskit mit, welches mit langer Teleskopstange bequem und sicher die Fensterreinigung vom Boden aus erlaubt.
Sehen und bedienen
Wir erklimmen das mit 12,5 m³ Volumen wohl grösste Fahrerhaus im europäischen Kabinenangebot. Die praktisch 90 Grad aufschwingenden Türen ermöglichen den trittsicheren Aufgang. Oben angekommen, erhält man mit einer Stehhöhe zwischen 2145 und 2220 Millimeter ein luftiges und äusserst grosszügiges Raumgefühl. Zum grossen Ausruhen blieb uns beim Test keine Zeit, doch verspricht die gut 2,2 Meter lange und durchgehend 80 Zentimeter breite Liege auch den nötigen Schlafkomfort fürs Übernachten in der Kabine.
Erneut beeindruckt hat uns die sehr gute Direktsicht und damit der bemerkenswert gute Blick auf das Verkehrsgeschehen. Möglich machen das die grosse, weit nach unten gezogene Windschutzscheibe (2,3 m³), die sehr niedrigen Unterkanten der ebenfalls grösser gewordenen Seitenfenster und die vorne steil abfallende Armaturenabdeckung. Das im Testfahrzeug XG+ eingebaute Kameraspiegelsystem verbessert das Sichtfeld zusätzlich. Speziell die Corner-View-Kamera reduziert den toten Winkel auf ein Minimum, denn ihr Sichtfeld deckt sowohl den unmittelbaren Frontbereich als auch die Beifahrerseite grossräumig ab. Auf unserer Testrunde, die uns über die Mittagszeit durchs Stadtzentrum von Biel führte, haben wir diese Übersicht und die Unterstützung durch den Abbiegeassistenten besonders geschätzt.
Ausser dem gewohnt grobschlächtigen Hebel für die Feststellbremse und die Taste für die Berganfahrhilfe lassen sich alle relevanten Funktionen über Tasten am Multifunktionslenkrad, über die beiden griffgünstig gelegenen Lenksäulenhebel und über griffnah gelegene Festtasten bedienen. Auch wer nicht täglich in der DAF-Kabine sitzt, kommt mit der intuitiven Bedienung rasch klar. Das digitale Hauptinstrument (12 Zoll) lässt sich in unterschiedlicher Optik darstellen, u.a. auch in Nachtsicht, in welcher nur noch die Geschwindigkeit und der eingelegte Gang angezeigt werden. Das 10 Zoll grosse Zusatzdisplay für Navigation und Infotainment ist optional, damit Kunden an diesem Platz auch ihre eigenen Logistiksysteme integrieren können.
Leisetreter
Die geringe Geräuschentwicklung zeigte uns, wie gut DAF die Kabine gegen Motoren-, Abroll- und Windgeräusche abgeschirmt hat. Selbst unter hoher Last blieb der Geräuschkomfort erhalten. Der Paccar-MX-13-Motor mit 355 kW (483 PS) zeigte mit dem auf 40 Tonnen voll ausgelasteten Testfahrzeug kaum Schwierigkeiten. Dank Multi-Torque stehen im obersten Gang (Direktgang) des 12-stufigen Traxon-Getriebes zusätzlich 150 Nm Drehmoment zur Verfügung, was das normale Drehmoment von 2350/min auf 2500 Nm anhebt.
Praktisch die ganze Testrunde von gut 180 Kilometern waren wir im Eco-Modus unterwegs. Lediglich den steilen Transjurane-Abschnitt von La Heutte bis Tavannes befuhren wir zusätzlich mit Eco-off, um die Unterschiede in der Antriebssteuerung zu sehen. In die Steigung fuhren wir beide Male mit 84 km/h ein. In Eco-off bewältigten wir den 5,5 Kilometer langen Abschnitt 20 Sekunden schneller, mussten aber auch einen um 6 Prozent erhöhten Verbrauch registrieren. Das Getriebe schaltete dabei früher zurück und der Motor konnte höher drehen. In beiden Versuchen schaltete der DAF XG+ bis in den neunten Gang zurück. Durch das Mehr an Schwung bei Eco-off fiel das Tempo nur auf 54 km/h zusammen, während im Eco-Modus die niedrigste Geschwindigkeit in der Steigung 51 km/h betrug. Dieser «Tiefpunkt» wurde jedoch an ganz unterschiedlicher Stelle im Hang erreicht: bei Eco-off erst im letzten Drittel des Abschnitts, im Eco-Modus hingegen bereits im ersten Drittel. Vor allem von hier dürften die 20 Sekunden Zeitunterschied herrühren.
Auf Wunsch bietet DAF eine mehr auf Leistung ausgelegte Steuerelektronik an. Diese hat als Grundeinstellung den bereits aggressiveren Eco-off-Parameter unseres Testfahrzeugs und bietet auf Tastendruck nochmals aggressivere Schaltcharakteristika und noch höhere Drehzahlen des Motors. Für Fahrzeuge mit Schwerlastaufgaben oder für den Baustelleneinsatz dürften diese Elektronikabstimmungen interessant sein.
Gut unterstützt
Auf der Berg-und-Tal-Fahrt der Testrunde gefielen die unterstützenden Funktionen wie der optimierte Eco-Roll und die auch bergab gute Haltefähigkeit des Tempomaten. In den Gefällen der Strecken durch die Jura-Hügel stellte speziell die MX-Motorbremse die Leistungsfähigkeit moderner Motorbremsen überzeugend unter Beweis. Die ergänzend zur Auspuffklappe über die hydraulisch gesteuerten Motorventile arbeitende Bremse konnte nochmals um 20 Prozent leistungsfähiger gemacht werden und bot eine Bremsleistung, welche die Antriebsleistung des Motors überstieg. Nach kurzer Angewöhnung vermissten wir trotz der 40 Tonnen einen hydraulischen Retarder nicht.
Auch wegen der präzisen Lenkung liess sich der 40-Tönner selbst durch schmale Abschnitte sicher dirigieren. Wie eingangs erwähnt, setzt DAF weiterhin allein auf eine hydraulische Unterstützung, da man die aktuell verwendeten elektrohydraulischen Lösungen als zu wenig Effizient ansieht. DAF will daher erst dann von der hydraulischen Lenkung wegkommen, wenn die rein elektrische Lenkung serienreif ist.
Sparsam
Für den abwechslungsreichen Parcours waren wir schliesslich rund vier Stunden unterwegs, Fotostopp inklusive. Der Gesamtverbrauch belief sich auf 36,9 l/100 km, ein kurzer Stau auf der A1 bei Kirchberg nicht mit eingerechnet. Auf der flachen A1 entlang des Jura-Südfusses lag der Schnitt bei 18,2 l/100 km, wobei wir mit 84 km/h und einer Motordrehzahl von 1000/min unterwegs waren. Damit liegt der DAF XG+ trotz teilweise nasser Fahrbahn ganz oben auf unserer Verbrauchsliste.
Nicht nur deshalb überzeugt der Niederländer. Er fährt sich komfortabel und leise, ist mit den guten Assistenzsystemen, wie die elektronischen Spiegel, auch im engen Geläuf und im Gewusel der Stadt sicher zu bewegen. Und diese Eigenschaften stehen nicht nur im Flaggschiff XG+ zur Verfügung, sondern in der ganzen, technisch verwandten New-Generation-Modellreihe.